„Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Archäologen und Anthropologen sind sensationell und in vielen Bereichen müssen die Geschichtsbücher neu geschrieben werden“ zieht Bürgermeister Mag. Mattias Stadler eine überaus positive Bilanz aus 10 Jahren Archäologie am Domplatz. „Dem anfänglichen Unmut über die Grabungen ist ein breites Interesse der Bevölkerung gewichen und mittlerweile interessieren sich nicht nur zahlreiche Wissenschaftler aus dem Ausland dafür, sondern auch TouristInnen. Im Grunde wurde hier ein Schatz geborgen, der sich zu einem echten Alleinstellungsmerkmal für St. Pölten entwickeln wird. Nirgendwo sonst auf der Welt wurde ein derart großer Friedhof archäologisch und anthropologisch erkundet. Die Kosten von 7.830.000 Euro waren zwar zwingend nötig, könnten sich aber später vielleicht sogar noch rechnen.“
Zahlen, Daten und Fakten zu den Grabungen am Domplatz
Bauherr: Magistrat St. Pölten
Projektleitung: DI Kurt Rameis, Fachbereich Bau
Planerische Gestaltung: Jabornegg & Pálffy Architekten, Wien
Wissenschaftliche Leitung: Dr. Ronald Risy, Stadtarchäologe St. Pölten
Anthropologie: Dr. Fabian Kanz, medizinische Universität Wien
Ziel: Neugestaltung des Domplatzes, samt notwendiger unterirdischer Einbauten
Archäologische Untersuchung:
Dauer: August 2010 bis November 2019
Untersuchungsfläche: 5.638,50 m²
- 900 Jahre Friedhof
- 975 Bananenkartons Fundmaterial (ohne menschliche Knochen)
- 2.985 Münzen
- 6.759 t händisch bewegtes Erdmaterial
- > 11.888 Kleinfunde
- 22.134 Skelette
- 33.849 Befunde
- ca. 300.000 Einzelfunde
- > 400.000 Fotos
- 1.060.000 Messpunkte
- 4.490.000 Megabyte Datenmenge (ohne RAW-Daten)
Weltweit einzigartiges Bioarchiv menschlicher Skelette
„Eine so große Anzahl an Funden bei einer archäologischen Grabung ist wirklich außergewöhnlich. Wir haben auf dem Domplatz in zehn Jahren die Geschichte zurück bis in die Römerzeit erforscht und konnten die Ergebnisse für unsere Nachwelt dokumentieren und fassbar machen. Unter anderem wurde ein mehrteiliger Gebäudekomplex, bestehend aus einem Badehaus, einem großen Repräsentationssaal sowie einem Verwaltungs- und Wohngebäudetrakt, aus dem 4. Jahrhundert entdeckt, der für die Forschung von internationaler Bedeutung ist und als Sitz des zivilen Statthalters angesprochen werden kann. Des Weiteren konnte das Team eine der derzeit ältesten bekannten Kirchen Niederösterreichs dokumentieren. Es gelang uns auch der Nachweis der zivilen Siedlung Treisma für das 9. Jahrhundert. Im Spätmittelalter standen insgesamt vier große Kirchen im Bereich des Platzes, der heutige Domplatz war somit schon damals das religiöse Zentrum der Stadt. Auch in die Zeit des Spätmittelalters sind zahlreiche außergewöhnliche Fundstücke zu datieren, die ein Bild über das damalige Leben ableiten lassen. Mit 22.134 freigelegten Bestattungen (aus dem 9. bis 18. Jh. n. Chr.), die dokumentiert und anthropologisch untersucht wurden, haben wir in St. Pölten das weltweit umfangreichste, ortsgebundene Bioarchiv menschlicher Skelette“, resümiert Stadtarchäologe Dr. Ronald Risy die Grabungsgeschichte der letzten zehn Jahre am Domplatz.
Bundesdenkmalamt hat Grabungen vorgeschrieben
Die Grabungen stellen keineswegs eine freiwillige Leistung dar, sondern sind gesetzlich vorgeschrieben: Im Unterschutzstellungsbescheid hat das Bundesdenkmalamt festgestellt, dass „den römerzeitlichen und mittelalterlichen Bauresten sowie dem mittelalterlichen Friedhof am Domplatz von St. Pölten eine nicht nur stadthistorische, sondern auch überregionale geschichtliche und kulturelle Bedeutung zukommt“. Damit wurde das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Denkmals im Sinne des Denkmalschutzgesetzes ausgesprochen. Unumgängliche Eingriffe in ein Bodendenkmal (= archäologisches Denkmal), wie sie am St. Pöltner Domplatz durch die geplante Platzgestaltung und die Erneuerung der teilweise sehr alten Einbauten bedingt waren, erforderten Ersatzmaßnahmen und bedurften der Bewilligung des Bundesdenkmalamtes (§ 5 DMSG).
Diese Ersatzmaßnehmen bestanden in der Durchführung von archäologischen Grabungen, der Dokumentation aller Befunde und Funde nach den „Richtlinien für archäologische Maßnahmen“ des Bundesdenkmalamtes, der Erfassung, Konservierung und Bewahrung der beweglichen Teile des Bodendenkmals (=der archäologischen Funde), die nach wie vor unter Denkmalschutz stehen. Nur bei Einhaltung der für alle Antragsteller geleichermaßen geltenden Rahmenbedingungen kann die Durchführung der archäologischen Ersatzmaßnahme erteilt werden. Die Beauftragung und Finanzierung derartiger Ersatzmaßnahmen liegt beim jeweiligen Verursacher bzw. Bauherrn.
Hätte die Stadt die Vorgaben des Bundesdenkmalamtes nicht erfüllt, wären eine Neugestaltung des Domplatzes und ein Austausch der Einbauten nicht möglich.
Neugestaltung des Domplatzes
2020 soll die Projektierung der Neugestaltung des Domplatzes abgeschlossen werden. Durch die Einigung mit der Diözese über die Errichtung einer Tiefgarage im Bischofsgarten ergeben sich neue Perspektiven für die Gestaltung. Im nächsten Jahr soll zudem die Ausschreibung der Einbauten und der Pflasterung erfolgen. Die Oberflächengestaltung, insbesondere die verwendeten Materialien, kann bereits besichtigt werden und zwar am Herrenplatz, denn die dort verlegten Materialen entsprechen jenen, die am Domplatz verwendet werden sollen.
Im Jahr 2021 wird die Erneuerung der Einbauten erfolgen und mit der Pflasterung begonnen. Die Arbeiten werden – so wie die archäologischen Grabungen – abschnittsweise erfolgen, um einerseits den Wochenmarkt am Donnerstag und Samstag abhalten zu können und andererseits ausreichend Parkplätze zur Verfügung zu haben. Mit Ende 2022 soll die Neugestaltung des Dompkatzes abgeschlossen sein.
Anthropologische Aufarbeitung wird fortgeführt
Im Jahr 2019 wurden noch einmal 2.023 Skelette geborgen und anthropologisch grundbestimmt. „Nach Abschluss der Ausgrabungen am Domplatz stehen die Überreste von insgesamt 22.134 Verstorbenen für die Forschung zur Verfügung. Für die Wissenschaft gilt somit dieser Abschluss der Hebung dieses biologischen Schatzes nicht als Ende, sondern vielmehr als Anfang intensiver Arbeiten“, erklärt Ass.-Prof. Dr. Karl Großschmidt von der Medizinischen Universität Wien.
Die vorbildliche Unterstützung der Ausgrabungen durch die Gemeinde St. Pölten muss und soll an dieser Stelle von Seiten der Wissenschaft ausdrücklich gewürdigt werden. Das anthropologische Team der Medizinischen Universität Wien hat in den letzten 10 Jahren wahre Knochenarbeit geleistet, wurden doch durchschnittlich mehr als 50 Skelette pro Grabungswoche geborgen. Alle Skelette wurden vermessen, deren Alter und das Geschlecht bestimmt sowie etwaige Auffälligkeiten dokumentiert. Durch die ausgezeichnete Arbeit der Archäologen und dank der günstigen Eigenschaften des St. Pöltner Bodens sind die Skelette in einem ausgezeichneten Zustand erhalten geblieben. Pilotstudien haben bereits gezeigt, dass DNA, Proteine, Spurenelemente und Isotope gut konserviert wurden. Dieser glückliche Umstand ermöglicht es Fragen zu der Mensch-Umwelt-Beziehungen der vergangenen 1.000 Jahre zu beantworten. Theoretisch lassen sich einerseits sehr langfristige Prozesse wie klimatische Veränderungen, aber auch periodisch wiederkehrende eher kurzfristige Migrationswellen und die entsprechenden Anpassungen der lokalen Bevölkerung der Stadt erforschen und unter Umständen Problemlösungen für die Zukunft ableiten.
Der industriellen Revolution etwa, folgten einerseits bessere hygienische Bedingungen, eine bessere Gesundheitsversorgung und eine steigende Lebenserwartung. Allerdings führte sie auch zu einer größeren Zahl von Gesundheitsproblemen durch den erhöhten Schadstoffausstoß oder zu sogenannten lebensstilbedingten Zivilisationskrankheiten wie Osteoporose, Fettleibigkeit oder Diabetes mellitus. Um die Einflüsse und Auswirkungen von so tiefgreifenden Veränderungen wie der Industrialisierung auf den Menschen besser verstehen zu können, müssen heutige Daten mit Daten von vor-industriellen Bevölkerungen verglichen werden. Hierbei gewinnen neu entwickelte Methoden in den Lebenswissenschaften und der Medizin, wie etwa DNA- oder Isotopen-Analysen, enorm an Bedeutung. Sie liefern völlig neue Daten zu der Evolution von Krankheitserregern (z. B. Tuberkulose, Pest) und die entsprechenden Anpassungen des Menschen im Laufe ihrer Ko-Existenz.
Zukünftig sollen gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern Forschungsprojekte durchgeführt werden. Für deren Realisierung müssen allerdings auch die entsprechenden finanziellen Mittel aufgebracht werden. Bis zur Ausstellung 2024 im Stadtmuseum hofft man jedenfalls, neue faszinierende Erkenntnisse gewonnen zu haben, um sie auch einem breiten Publikum vorstellen zu können.